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Volkstrauertag, 18.11.2018
Friedhof Merowingerstraße, Kleve
am Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs
Meine Damen und Herren, geehrte Trauergäste!
Seit vielen, vielen Jahren
trauere ich jeden Tag.
Manchmal nur einen Moment lang,
manchmal intensiver und länger.
Ich trauere um meine Großeltern,
die im Oktober 1942
in Auschwitz vergast und verbrannt wurden;
ich trauere um meinen Onkel,
der ihnen um zwei Monate vorangegangen war;
ich trauere um die ganze Verwandtschaft,
die nie zurückkehrte.
Hinzu kommt meine intensive Trauer,
fast tagtäglich,
über verhungernde Kinder im Jemen,
über ertrinkende Menschen aller Altersgruppen
im Mittelmeer,
um Bombenopfer in Syrien,
um Anschlagopfer auf der ganzen Welt…
Nein,
man kann nicht
um jedes Opfer
von Krieg, Gewalt
und vermeidbarem Hunger und Elend trauern. Man muss vieles abwehren,
wegdrücken,
damit man leben kann,
noch Freude erleben
und Freude spenden kann.
Aber es gibt Traueranlässe,
die niemals verschwinden.
Das sind die persönlichen,
die ganz privaten.
Heute wird
in der Bundesrepublik Deutschland
wieder der Volkstrauertag begangen.
Es ist ein merkwürdiger Trauertag,
merkwürdig wegen seiner Geschichte……
1925 fand der erste Volkstrauertag statt,
in einer regionalen Zeitung
war folgendes zu lesen:
„Volkstrauertag!
Der erste deutsche Volkstrauertag
soll in erster Linie dem Ehrengedenken
unserer im Weltkriege gefallenen
Väter, Brüder und Söhne gewidmet sein.
Es ist nur zu wünschen,
dass sich diese ernste Feier
echt tief und fest und feierlich,
auch ohne viele Reden und Gesänge,
aus dem ureigenen deutschen
und menschlichen Empfinden heraus
geltend macht
in den Herzen des ganzen Volkes.“
Damals war das Gedenken wohl
auf die „eigenen“,
die „ureigenen deutschen“ Toten beschränkt.
Hat man damals in Kleve
auch des jüdischen Klevers
Paul Bernhard Mildenberg gedacht?
Er war Unteroffizier
beim Fußartillerie-Bataillon 124
und starb am 4. Juni 1917
im flämischen Bosbeke in Nord-Frankreich.
Seinen Namen
habe ich hier nicht gefunden,
aber viele Steine sind unlesbar geworden.
Vielleicht könnten sie gereinigt werden.
1934, nach dem Tod Hindenburgs,
wurde aus dem Volkstrauertag
der Heldengedenktag;
zu den Helden gehörten nun auch
die nationalsozialistischen Toten
des niedergeschlagenen Hitlerputsches
vom 9. November 1923.
Nach 1945
Hat es sich die Gesellschaft
mit diesem Tag nicht einfach gemacht.
Es hat viele verschiedene
Formen und Inhalte gegeben.
Bedeutend war
der offizielle Festakt
der Bundesregierung im Jahre 1987,
wo ganz allgemein
der Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft
und Terrorismus gedacht wurde.
Volkstrauertag – Volk…
Es ist heute wieder wichtig,
die Frage zu stellen,
wer eigentlich das Volk ist!
Nein, ganz gewiss nicht mehr
die Gesamtheit der „ureigenen Deutschen“!
Es sollte –
nimmt man die heutige Zielrichtung
dieses Trauertages ernst –
die Gesamtheit der friedlich
in der Bundesrepublik lebenden Menschen sein,
denn sie machen das Volk aus.
Sind heute auch andere als die „ureigenen“
hier eingebunden?
Ja, ich freue mich, dass ich –
Niederländer und Jude –
hier heute sprechen darf!
Aber mehr noch hätte ich mich gefreut
über mehr farbige Vielfalt.
Volkstrauertag!
Trauern um Verstorbene ist immer
eine sehr persönliche Sache,
kann nie etwas Kollektives sein,
und auch nicht etwas Organisiertes.
Auch ist es schwer,
zu trauern über Menschen,
deren Handeln und deren Motivation
einem unbekannt sind.
Kann, soll ich trauern um jene,
die Teile einer Tötungsmaschinerie waren?
Als Freiwillige ins Feld gegangene Soldaten
oder als Zwangsrekrutierte, …
als bewusst Handelnde
oder als Wegschauende,
wenn andere getötet wurden?
Es wurden Eroberungsfeldzüge durchgeführt,
mit Willigen und Nichtwilligen.
Sehr wenige desertierten
und wurden noch Jahrzehnte nach dem Krieg
als fahnenflüchtige Verräter
gebrandmarkt.
Weder in Holland, Belgien und Frankreich,
noch in Polen, Russland
und zahllosen anderen Ländern
hatten die Einheiten der Wehrmacht
etwas anderes zu suchen
als Macht, Land
und eine zu unterdrückende
und auszuraubende Bevölkerung.
Überall wohin die Wehrmacht kam,
wurden Konzentrationslager eingerichtet,
im Schutzraum der Wehrmacht!
Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle,
Zeugen Jehovas, politisch Unliebsame,
sie wurden in diesen Lagern
zu Tode verschlissen oder gezielt ermordet,
oft auf grausamste Weise.
Millionen und Abermillionen
von unschuldigen Bürgerinnen und Bürgern
in zahllosen eroberten Staaten
wurden, auch während der sogenannten
Feldzüge, ermordet.
Kann ich trauern
um alle Gefallenen,
von denen vielleicht nicht wenige
gegen ihren Willen dabei waren,
aber von denen auch sehr, sehr viele
aus Überzeugung
bei diesem verbrecherischen Krieg
mitgemacht haben?
Um wen trauern wir am Volkstrauertag?
Trauern wir um die „gefallenen“ Soldaten?
Weiß ich, wer von ihnen
in einem Schießkommando
am Rande einer Todesgrube gestanden hat?
Weiß ich,
wer kaltblütig sogenannte Feinde niedermetzelte? Kann oder soll ich mir
für meine Trauer
diejenigen auswählen,
die weggeschaut haben,
nur widerwillig geschossen haben?
Oder sollen wir nicht vor allem
deswegen trauern,
weil es dazu gekommen ist,
dass Menschen zu Unmenschen wurden,
zu willigen Vollstreckern von Verbrechen,
die von anderen ausgedacht
und befohlen wurden.
Ja, wir trauern, meine ich,
wenn wir kollektiv trauern,
um die Tatsache,
dass dies alles geschehen konnte
… und kann
…. und weiterhin geschieht.
Aber sinnlos wäre dieses Trauern,
wenn wir nicht aktiv
darüber nachdenken,
warum, wodurch, wieso
es überhaupt Kriege und Gewalt
gegeben hat und auch immer noch gibt.
Das, meine Damen und Herren,
und nur das bringt uns jetzt
nach meiner festen Überzeugung
hier zusammen!
Nach dem zweiten
musikalischen Beitrag von
Wolfgang Liss
und der Kranzniederlegung
wird der stellvertretende Bürgermeister
Joachim Schmidt
das Totengedenken einleiten,
das Totengedenken
für alle Umgekommenen
auf beiden Seiten
aller kriegerischen und geistigen Fronten.
Ron Manheim