POGROM-GEDENKEN 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
Ich habe meine Ansprache
„Es brennt, es brennt!“ Überschrieben.
Dies verweist
auf ein jiddisches Lied.
Es stamm von Mordechai Gebirtig.
Die Anfangszeile lautet:
S´ brent! briderlekh, s´brent!
Das Lied entstand in Polen, im Jahre 1938
im selben Jahr,
als hier in Kleve, an diesem Platz,
die Synagoge brannte.
Auch in Polen gab es
schon sehr, sehr lange
bevor die Mörderarmeen aus Deutschland
dort 1939 einfielen
Pogrome, Pogrome, Pogrome!
Bereits das neunzehnte Jahrhundert
hatte in ganz Europa
ein beängstigendes Aufleben
des mörderischen Antisemitismus
gezeigt.
Und heute wissen wir,
wie es weiter ging.

Mordechai Gebirtig
sprach mit seinem Gedicht
„Es brennt, Briderlekh, es brennt!“
zwar die Juden
eines brennenden Dorfes an,
– „Oy, undzer stetl brennt!“ –
aber gleichzeitig war es
ein verzweifelter Aufruf an die Welt,
die — wegschaute!
Der wichtigste Satz
am Ende des Liedes
von Mordechai Gebirtig
lautet jedoch:
Lesht dos fayer,
löscht das Feuer.
Und noch immer gilt dieser Aufruf,
auch heute noch,
ja, gerade heute wieder!
Ja, meine Damen und Herren,
Freundinnen und Freunde,
auch heute geht es nicht NUR
um Gedenken und Erinnern
für eine bessere Zukunft,
es geht auch und wieder
um das Löschen des Feuers,
das uns umgibt.
Allerdings,
als ich diesen Titel für meine Rede
den Organisatoren dieser Gedenkveranstaltung
mitteilte,
wusste ich noch nicht,
was sich am 7. und 8. Oktober 2023
im Nahen Osten abspielen würde.

Ich dachte damals
an die sehr bedrohliche Lage,
in der sich unsere Demokratie
und damit unsere ganze Gesellschaft heute befindet.
Und darauf komme ich denn auch gleich zurück,
aber zunächst
MUSS ich reden
über das Feuer
vom 7. und 8. Oktober 2023.
Im Kleve des Jahres 1938
konnten die meisten Menschen nur ahnen,
wohin die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden,
die Gewalt gegen die eigene Lebenswelt,
gegen ihre nackte Existenz
noch führen würde.
Heute weiß es jede und jeder.
WIR WISSEN ES!
Aber trotzdem schwelt
der 2000 Jahre alte Antisemitismus weiter,
auch in Kleve.
Als ich,
wenige Tage nach dem HAMAS-Massaker,
auf den Koekkoeksplatz trat,
sah ich Unruhe, gespannte Gesichter,
die in Richtung der Tiergartenstraße schauten.
Dort, auf der anderen Seite des Platzes,
formierte sich eine Demonstration.
Es waren wohl mehrheitlich Menschen
aus dem studentischen Milieu
und vor allem auch solche
mit einem arabisch-palästinensischen Hintergrund.

Ich habe sofort
das Gespräch mit den Organisatoren gesucht
und hörte:
das Thema sei „Free Palestine“, befreit Palästina.
Noch immer habe ich mich davon nicht erholt!…..
Nicht, dass mich die Freiheit
der Palästinenserinnen und Palästinenser
kalt lassen würde,
ganz im Gegenteil,
aber
239 Geiseln, …
darunter auch Kleinkinder und Baby’s,
das jüngste 9 Monate alt,
und 1400 wild, grausam massakrierte Menschen.
Und DAS nahmen nun diese Menschen nun zum Anlass,
mit dem unklaren Begriff „Free Palestine“
auf ihre Probleme und Sehnsüchte hinzuweisen!
Warum jetzt?
Warum nicht drei Wochen vor dem Massaker?
Warum Jetzt?
Das kann doch nicht anders verstanden werden,
als Rechtfertigung oder gar Unterstützung der HAMAS.
Es hörte nicht auf.
Auf dem Campus unserer Hochschule
wurde, – noch immer im Nachhall dieser Schandtaten,
und während die Geiseln
noch immer Geiseln waren (und sind),
wenn sie überhaupt noch alle am Leben sind,
demonstriert „gegen Zionismus“.

Nicht gegen den unverblümten
Faschimus der HAMAS,
die die eigene Bevölkerung
seit Jahrzehnten in Geiselhaft hält,
nicht gegen diese offen antisemitischen Hetzer
nein,
gerade jetzt fängt man eine Grundsatz-Diskussion an
über das Existenzrecht
des seit 1948 existierenden
und damals von den Vereinten Nationen
legitimierten Jüdischen Staates…
Warum, warum JETZT?
Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
ich weiß noch immer nicht,
wie ich mich davon erholen soll.
Noch warte ich auf Erklärungen
auch von Menschen,
die ich irgendwie zu meinem Bekanntenkreis
rechne,
und die ich nun –
wenn auch wohl ahnungslos unbeabsichtigt –
als HAMAS-Applaudierende
erleben musste.
Wie erholt man sich
von einem Brand, der weiterlodert?
S‘ brennt, briderlekh s’brennt!

Und nun,
meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
muss ich vom anderen Brand,
vom anderen Feuer sprechen,
das seit langem um uns herum lodert,
und das erst allmählich erkannt wird.
Ich meine den Brand, der dabei ist,
die Demokratie zu vernichten,
auch hier bei uns, in Kleve.
Immer geringer wird seit Jahren
die Zahl derer,
die sich mit demokratischer Überzeugung
an Wahlen beteiligen.
Immer mehr Bürgerinnen und Bürger
benutzen ihr Wahlrecht,
um ihre Stimme gegen die Demokratie
abzugeben,
und immer mehr Bürgerinnen und Bürger
gehen überhaupt nicht mehr zur Wahl.
Eine antidemokratische Stimmung
macht sich aber auch
im Gesprächs- und Diskussionsstil
bei parlamentarischen Debatten breit.
Die potenziellen Wählerinnen und Wähler
werden gewissermaßen
durch demokratie- und anstandsfeindliche
öffentliche Umgangsformen
von der Demokratie weggetrieben!
Anstand, Ruhe, gegenseitiger Respekt, …
sie scheinen im Bundestag
und auch in anderen Gremien
nichts mehr zu gelten.

Wen kann es dann wundern,
wenn ahnungslose Bürgerinnen und Bürger
den Unterschied
zwischen Demokraten und Demokratie-Verächtern
nicht mehr HÖREN können,
wenn sie zufällig
ein Debatten-Fragment mitbekommen.
Das größte Problem,
die wichtigste Frage,
die heute
– hier bei uns, fern ab von Weltbränden –
im Raum steht,
ist die, wie wir Menschen wieder
für demokratische Prozesse interessieren können!
Ja, das hat mit Holocaust-Gedenken,
mit Erinnern für die Zukunft zu tun,
denn schon einmal hat man hier vor Ort
erleben müssen, wie die Demokratie
einfach über Bord geworfen wurde.
Ja, auch hier vor Ort,
als nach den Kommunalwahlen vom 5. März 1933
die NSDAP keine Mehrheit im Klever Rat bekommen hatte,
dann aber vier Abgeordnete
der Fraktion des katholischen Zentrums
zur Fraktion
der gewaltbereiten Antisemiten wechselten!
Nein, so weit sind wir heute nicht,
aber die Drohungen hängen in der Luft,
unverkennbar!
Und da sehe ich eine große Aufgabe
auf der direkten lokalen, kommunalen Ebene,

Es ist an der Zeit,
ja, es ist die allerhöchste Zeit,
dass Mitglieder demokratischer Parteien hier vor Ort
ZUSAMMEN, ja, gemeinsam!
und also nicht als Werberinnen und Werber
für die eigenen Parteistandpunkte,
sondern als Demokratinnen und Demoraten auf die Straße gehen!
Aber nicht hier, nicht in den Einkaufsstraßen,
nicht auf den öffentlichen Plätzen!
Wir sollen, nein,
wir müssen in die Quartiere hinein!
Wir wissen doch genau
aus den Wahlergebnissen der letzten Jahre,
in welchen Wohnvierteln
die Nichtwählerinnen und Nichtwähler
eine große Macht formen.
Gleiches gilt für die Wählerinnen und Wähler
der antidemokratischen Kraft vor Ort.
Es hilft jetzt nur noch das direkte Gespräch vor Ort,
das schwer genug sein wird!
Enttäuschungen sind vorprogrammiert.
Aber überzeugte Demokratinnen und Demokraten
sollen und müssen jetzt
großes Durchhaltevermögen an den Tag legen!
Und es muss jetzt sein, sofort,
nicht erst kurz vor den nächsten Wahlen!
Setzt Euch,
liebe Menschen aus den Parteiorganen hier vor Ort,
zum kreativen Brainstorming zusammen!
Wir müssen uns neue Formen einfallen lassen!
Holt die Menschen zurück!
Löscht das Feuer!

Und wir,
vom Verein Haus der Begegnung –
Beth HaMifgash,
werden Euch unterstützen!
Auch wir sehen die Aufgabe,
die Demokratie retten zu helfen,
auf unserer Ebene, mit unseren Mitteln.
Für die großen Probleme der Welt
haben wir keine Lösungen.
Aber hier und jetzt,
in unserer Lebenswirklichkeit
wollen wir wirken.
Das versuchen wir seit unserer Gründung
im Jahre 2013
in vielerlei Form:
durch Begegnungen mit Gesprächen und Musik,
durch Festivals und viele Aktivitäten,
die immer für alle offen stehen.
Nun aber haben wir
für die Kraft und Effektivität unserer Arbeit
einen großen Schritt vorwärts gemacht.
Ein neuer,
großartiger Architekturentwurf
öffnet uns jetzt den Blick
auf eine neue Zukunft für diesen Ort,
der weiterhin und für alle Zeit
an die Synagoge erinnern soll,
die Synagoge
die von 1821 bis 1938
der Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Kleve war.
Hier, wo wir jetzt sitzen und stehen,
werden wir weiterhin jedes Jahr am 9. November
mit Ihnen gedenken,
uns auf die Schrecken
jener dunkelsten Vergangenheit konzentrieren;

denn diese, diese Schrecken sollen uns HIER weiterhin WARNUNG sein;
und auch Anregung zum Handeln,
dort, wo es geboten ist.
Was hier NEU entstehen wird,
und zwar hier über unseren Köpfen,
über unserem offenen Raum des Gedenkens
ist: die Möglichkeit,
das ganze Jahr hindurch
zusammenzukommen,
Initiativen zu entwickeln,
Gespräche aller Art zu führen,
Schüler-Ausstellungen
die ganze Woche hindurch öffentlich zu zeigen,
und vieles mehr.
Hier, als Überbau über dem Gedenken,
soll an Frieden, Verständnis, Nächstenliebe
gearbeitet werden,
in allen erdenklichen Formen.
Von diesem Überbau aus
wird Licht und werden Gedanken ausstrahlen,
in die weite Umgebung hinein.
Man wird den ORT
der Synagoge wieder von fern wahrnehmen,
endlich,
man wird sehen und wissen:
dort war es,
da geschah schreckliches,
das wir nie vergessen werden.

Und
es wird von diesem Ort
– hinunter und herum –
Entschlossenheit ausstrahlen,
Entschlossenheit,
die Zukunft ernst zu nehmen,
alles einzusetzen,
damit wir hier in Frieden,
in gesellschaftlichem Frieden,
leben können,
mit Respekt für unsere Mitmenschen
als oberstem Gebot.
Friedensarbeit, Demokratie-Arbeit
verbunden mit Gedenk- und Erinnerungsarbeit.
Zwei kleine Geschosse werden das lebendige Zentrum
für Stadt und Umland sein.
Wir glauben fest daran, und …
wir brauchen Sie alle!

Ron Manheim
4.11.2023