Von Kleve in alle Welt geflüchtet
Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus flohen deutsche Juden in alle Welt. Erich, Hilde, Kurt und Ernst Leffmann fanden sich auf vier Kontinenten wieder.
Ernst, Kurt, Hilde und Erich Leffmann ca. 1934
„13 Mitglieder meiner Familie sind von den Nazis getötet worden und der Rest in aller Herren Länder verschlagen“ (aus einem Brief von Kurt Leffmann)
Flucht ist heute wieder ein aktuelles Thema. Was es für Menschen bedeutet ihre Familien, ihre Heimat, ihre beruflichen Existenz und alles, was ihnen bisher Sicherheit gegeben hatte, verlassen zu müssen, kann man auch am Schicksal von Überlebenden der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland sehen.
Hilde und Kurt Leffmann 1949
So soll hier – wenn auch stark verkürzt – die Lebensgeschichte von Erich, Hilde, Kurt und Ernst Leffmann geschildert werden, für die Kleve bis 1933 ganz selbstverständlich „Heimat“ war.
Die Großmutter Regine Leffmann, die Eltern und die kleine Schwester Hannelore waren ermordet worden.
Die vier Geschwister überlebten, weil es ihnen gelang aus Deutschland zu flüchten. Sie fanden sich schließlich auf vier verschiedenen Kontinenten wieder und jeder musste alleine versuchen, ein neues Leben aufzubauen.
Der 1908 geborene Erich und sein drei Jahre jüngerer Bruder Kurt waren 1939 nach England emigriert. Während der stark sehbehinderte Kurt dort bleiben konnte, wurde Erich im Mai 1940, nach Beginn des Krieges im Westen, als „enemy alien“ (feindlicher Ausländer) interniert und wenig später mit dem ehemaligen Truppentransporter „Dunera“ zusammen mit zweieinhalbtausend weiteren überwiegend jüdischen Häftlingen unter erbärmlichen Lebensbedingungen nach Australien deportiert. In Melbourne blieb er zunächst im Internierungslager. Nach seiner Entlassung trat er in die australische Armee ein.
Nach dem Krieg musste Erich sich eine berufliche Existenz aufbauen. Er hatte in Deutschland Jura studiert und war 1933 gemäß dem „Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ als Referendar aus dem Justizdienst entlassen worden. In Australien war sein Studium ohne Bedeutung. Sein Schwager verschaffte ihm in seinem Bekleidungsgeschäft eine Stelle als Büroangestellter. Bis zur Pensionierung war er in diesem Beruf tätig. Erst dann erhielt er als kleinen Ausgleich für die entgangenen beruflichen Möglichkeiten eine Rente aus Deutschland. Er starb 1987 nach langer Krankheit.
Seine Zwillingsschwester Hilde verließ Deutschland 1937 und gelangte in die USA. Dort konnte sie zwar in ihrem Beruf als Ärztin arbeiten, doch glücklich scheint sie nicht geworden zu sein. Sie blieb alleine und geprägt von ihren Emigrationserfahrungen. An ihren Bruder Ernst schrieb sie 1954: „All mein Streben ist darauf hinaus mir eine materielle Sicherheit zu schaffen, damit ich niemanden in der Welt je um Hilfe bitten muss, da ich nie gelernt habe, zu glauben, dass irgend wer gerne etwas für mich täte.“ Schon 1960 starb sie an Krebs.
Obwohl Hilde – nicht zuletzt geprägt durch die deutsch-nationale Erziehung ihres Vaters – den Staat Israel sehr kritisch sah, bewunderte sie Ernst, der sich mit aller Kraft für den Aufbau des Landes einsetzte und sich ganz und selbstlos der Arbeit im Kibbuz widmete.
Ernst war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, als er Kleve 1938 fluchtartig über die niederländische Grenze verließ. Mit Hilfe Dritter gelangte er schließlich nach Israel, wo er den Namen Chanan Leshem annahm.
Chanan Leshem mit seiner zweiten Ehefrau Chava und seinem ältesten Sohn Yoram, 1952
Zunächst ging er als Freiwilliger zur jüdischen Brigade und diente später auch bei den israelischen Streitkräften (IDF). Das Leben im Kibbuz war sehr hart und entbehrungsreich. Bei allem Idealismus kostete es auch seinen Preis. Zwei Ehen scheiterten und am Ende seines Leben war er enttäuscht und gebrochen. Nach Auskunft seiner Enkelin erschoss er sich 1984 mit seiner eigenen Waffe, auch wenn offiziell von einem Unfall gesprochen wurde.
Kurt arbeitete – nun völlig erblindet – in England als Telefonist bei der JCA (Jewish Colonization Association) und lebte in bescheidenen Verhältnissen. Er übernahm es, die Ansprüche auf Rückerstattung und Wiedergutmachung geltend zu machen, von denen die Geschwister nichts wissen wollten. Die langwierigen Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden, aber auch die dazu notwendige Beschäftigung mit der Vergangenheit belasteten ihn. 1953 besuchte er Kleve und berichtete Ernst ausführlich über seine Eindrücke. Zugleich bat er – mit mäßigem Erfolg – über die Zeitung um Fotos und Erinnerungsgegenstände des Kaufhauses Leffmann. Er starb 1982.
Über Briefe und gelegentliche Besuche hatten die Geschwister Verbindung gehalten, die dann aber abbrach. Doch das Bedürfnis, die eigenen Wurzeln zu kennen, blieb so stark, dass es schließlich die Enkel waren, die über einen Online-Familienstammbaum in Kontakt kamen und nun stückweise ihre gemeinsame Geschichte zusammensetzen – und Kleve als Stammort der Familie ist hierbei immer noch von Bedeutung.
Helga Ullrich-Scheyda
Der Text erschien am 7. November 2015 im Klever Lokalteil der NRZ