Es geschah mitten in Kleve
Vortrag, gehalten auf der Veranstaltung zur Erinnerung an das Novemberpogrom von 1938 auf dem Synagogenplatz in Kleve am 9. November 2016
Helga Ullrich-Scheyda
Ostern 1934 musste der 11jährige Ernst Leffmann das Staatlichen Gymnasium in Kleve verlassen. Sein Klassenlehrer war Hans Schwarz gewesen, der sich seit fast zwei Jahrzehnten um das Klever Musikleben verdient gemacht hatte, nun aber in SA-Uniform in die Schule kam und sich vor allem durch antijüdische Hetze gegenüber seinem Schüler hervortat.
Ernst war zunächst vom Schulunterricht suspendiert, dann nach Protest des Vaters noch einmal zugelassen worden. Doch schließlich machten ihm die Anfeindungen ein Verbleiben auf dem Gymnasium unmöglich.
Hierzu trugen sicher seine Mitschüler bei – darunter der Sohn des damaligen Kreisleiters Alwin Görlich. Dessen Bericht hatte immerhin zur Folge, dass ein Lehrer der Klasse von der SA aus der Schule abgeführt und im „Braunen Haus“, der Parteizentrale, vernommen wurde. Er hatte den Schülern verboten, während des Unterrichtes zu singen – und zwar das Horst-Wessel-Lied.
1931 konnte man beim VfB 03 Kleve die Meisterschaft feiern. In der Festschrift von 1953 wurden die Verdienste, die Wilhelm Haas hieran hatte, noch ausführlich gewürdigt.
„1928 wurde Willy Haas von den Klever Lederwerken Fußballobmann. In zäher Kleinarbeit und unter großen persönlichen Opfern hielt Willy Haas das Ziel vor Augen, „seinen VFB“, an dem er mit ganzem Herzen hing, wieder nach oben zu führen.
Haas hatte den Verein auch finanziell großzügig unterstützt und war, ebenso wie sein Bruder Dr. Gerhard Walter Haas, der 1931 die Leitung der Jugendabteilung übernommen hatte, eng mit dem Vereinsvorsitzenden Josef Frenken befreundet. Nach 1933 zerbrach diese angebliche Freundschaft. Frenken trat in die NSDAP, die SA und später die SS ein und sorgte als Landgerichtsrat dafür, dass die nationalsozialistische Rechtsauffassung auf der Schwanenburg zur Geltung kam. Gerhard Haas, ebenfalls Richter, verlor schon 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums seine Stellung.
Der VFB galt nun als „Gestapo-Verein“.
Seit 1933 wurde die Gaststätte des Hotel Benedict in der Großen Straße, immer wieder von SA-Schlägertrupps heimgesucht, die die Einrichtung demolierten und die Gäste belästigten. Der Inhaber Gustav Meyer war SPD-Mitglied, in den 1920er Jahren Stadtverordneter und bis 1933 im Vorstand der Sparkasse gewesen. Die Gaststätte war Stammlokal der SPD und der Eisernen Front. Meyer erlitt große wirtschaftliche Einbußen und auch seine Gesundheit nahm Schaden. 1936 sah er sich gezwungen, Betrieb und Gebäude zu verkauften. Nach übereinstimmenden Zeugenaussagen nach 1945 war es der Pächter der unmittelbar gegenüberliegenden Gaststätte „Zum Schwänchen“, der die Schlägertrupps geschickt hatte, nicht weil der etwas gegen Juden hatte, sondern weil es eine günstige Gelegenheit war, einen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten.
Seit etwa 1935 wurden die Tiere des Viehhändlers Bernhard Gonsenheimer als „Judenvieh“ gekennzeichnet und beim Verkauf entsprechend schlecht bewertet.
Die Familie des Tierarztes Dr. Max Wolff organisierte im Juli 1939 die Auswanderung nach England und versuchte Teile ihres Besitzes mitzunehmen – darunter vier wertvolle Truhen, zwei aus dem 18. Jahrhundert.
Obwohl der Regierungspräsident in Düsseldorf die Ausfuhrgenehmigung erteilt hatte, wurden die Truhen, als „deutsches Kulturgut“, an der Grenze beschlagnahmt. Da keine Möglichkeit mehr zum Umpacken bestand, verlor die Familie auch Umzugsgut, das sich in den Truhen befand. Die vier Truhen kamen ins Klever Heimatmuseum.
Der frühere Leiter des Finanzamtes Werner Lehmann berichtete 1953 von einer Beobachtung, die er zufällig von der Terrasse des Hotels Bollinger aus gemacht hatte: „Aus einem jüdischen Haus schräg gegenüber wurden durch einen Kriminalbeamten der Stadt Kleve Möbel und Hausrat herausgeholt und die jüdische Familie aus der Wohnung ausquartiert.“
Was er da sah, war der vorletzte Schritt der Vernichtung jüdischen Lebens in Kleve: die zwangsweise Einweisung der Juden in das sogenannten Judenhaus in der Klosterstraße im November 1941, darunter auch die Bewohner des Hauses in der Kavarinerstr. 42 – schräg gegenüber von Bollinger.
Aus dem Bericht wird deutlich, dass sich dies tatsächlich im hellen Tageslicht abgespielt hat und jeder, der es sehen wollte, es hätte sehen können.
Lehmann selbst – so führte er weiter aus -, kümmerte sich nicht weiter um die Vorgänge, da seine Behörde nicht daran beteiligt war.
Das Finanzamt war allerdings für anderen Maßnahmen zuständig:
für die Erhebung der sogenannten „Reichsfluchtsteuer“, für die „Verwaltung jüdischen Vermögens“, was nicht anderes hieß, als der legalisierte Raub sämtlicher Vermögenswerte von Juden nach ihrer Emigration bzw. Deportation und für die Einziehung und Verwertung des Besitzes der Deportierten. Der Vollziehungsbeamte des Finanzamtes leitete die öffentliche Versteigerung der beschlagnahmten Sachen – in Kleve fanden diese in der Gastwirtschaft Pauls am Großen Markt statt – und er überwies den Erlös an die Oberfinanzdirektion Düsseldorf.
Aufgrund einer Anordnung der Oberfinanzdirektion hatte das Finanzamt seit 1942 sogar den ersten Zugriff auf das Mobiliar der Deportierten und auf die – auch nach dem Krieg noch so bezeichnete – „Judenwäsche“. Sie wurde im Finanzamt an die Mitarbeiter verkauft. Lehmann erinnerte sich 1962 daran, dass „im Sitzungsaal auf den langen Tischen ein Berg Wäsche lag, der offensichtlich aus jüdischen Haushalten stammte.“
Wie allerdings die Verwertung erfolgte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
Nazis fielen nicht 1933 vom Himmel und verschwanden auch nicht 1945 wieder im Weltall.
Antisemitismus und religiös begründeten Antijudaismus gab es auch in Kleve schon vor 1933.
Der fundamentale Unterschied war, dass mit der sogenannten „Machtergreifung“ der Antisemitismus zu offiziellen Leitlinie staatlicher Politik wurde.
Der Staat war es, der eine schon vorher ausgegrenzte Gruppe, eben „die Juden“ als „schädlich“ oder „feindlich“ definierte und die Diskriminierung durch Propaganda und Gesetzgebung legitimierte und legalisierte.
Lebensumstände und Maßnahmen galten so als normal, auch wenn sie es in Wirklichkeit ganz und gar nicht waren. Hinzu kamen oft banale Motive, die zum Mitmachen verleiteten: der Wunsch nach Zugehörigkeit zu der bestimmenden Gruppe, Missgunst, Neid, Desinteresse aber auch beruflicher Ehrgeiz und berufliche Routine.
Es war nicht nur staatliche Gewaltandrohung, die große Teile der Bevölkerung dazu brachte den Nationalsozialisten zu folgen, sondern auch tatsächliche Zustimmung – gegründet auf die Aussicht auf ein besseres Leben innerhalb der NS-Volksgemeinschaft, die uns heute unbegreifliche Faszination Adolf Hitlers und seine Verheißung Deutschland wieder zu alter Größe zu führen.
Auch wenn diese Zusammenhänge in der historischen Forschung heute weitgehend unbestritten sind, ist es erschreckend, wie schnell das alles in Kleve zu wirken begann, in einer kleinen katholisch geprägten Stadt, in der Juden und Nichtjuden jahrzehntelang zusammengelebt und -gearbeitet hatten.
Die Klever Schulen schon waren schon 1934 wie es damals hieß „judenfrei“.
Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte setzten in Kleve schon im März – also vor den reichsweit angeordneten Boykotten am 1. April – ein und sie waren so effektiv, dass ein großer Teil der jüdischen Geschäftsinhaber nach kurzer Zeit aufgeben musste. 1938 gab es nur noch das Kaufhaus Leffmann, das dann in der Pogromnacht, nachdem die Synagoge niedergebrannt worden war, völlig zerstört wurde.
Erst nach dem Pogrom wurde Juden der Besuch „deutscher“ Schulen und eine selbstständige Tätigkeit in Handel und Handwerk von staatlicher Seite verboten.
Die Zahl derjenigen, die dabei mitwirkten, war groß.
Um das verbrecherische System zu stützen, genügten einige fanatische Parteigänger und viele willige Helfer, die „nur ihre Pflicht“ taten. Sie mussten selbst nicht einmal Nationalsozialisten sein.
Wie schrieb Gottlieb Brodowski, der Vollziehungsbeamte des Finanzamtes, der für die Einziehung und Verwertung des jüdischen Besitzes nach der Deportation zuständig war, in seinem Entnazifizierungsverfahren:
„Ich habe 40 Jahre unter sämtlichen Regierungen meine Pflicht getan und wenn man mich nicht entlassen hätte, würde ich meine Pflicht heute genauso erfüllen, wie auch früher. “
Viele durften im Gegensatz zu Brodowski auch nach 1945 „ihre Pflicht“ tun.
Zu den Parteigängern und Helfern kam dann noch eine große schweigende – aber oft profitierende Mehrheit.
Die jährliche Gedenkveranstaltung auf dem Synagogenplatz ist wichtig. Der 9. November 1938 markiert eine neue, dramatische Stufe in der Judenverfolgung. Es war der Beginn des offenen Terrors gegen die noch in Deutschland lebenden Juden. Viele Klever, so erfährt man aus Zeitzeugenberichten, missbilligten die Gewalt und waren entsetzt über den Brand einer Synagoge.
Aber das Verbrechen begann früher und es ging weiter. Und daher gehört Erinnerung und Mahnung auch dort hin, wo die Menschen gelebt haben, wo sie normale Klever Bürger und Teil der Klever Gesellschaft waren, bis sie 1933 abrupt aus ihrem Alltag gerissen wurden. Dort hin, wo sie ausgegrenzt, entrechtet und gedemütigt wurden, wo sie ihre berufliche Existenz verloren, wo man sie ausplünderte, von wo sie flüchteten, von wo sie zwangsweise umgesiedelt und schließlich in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert wurden.
Und daher werden ab dem 22. November 2016 auch in Kleve Stolpersteine verlegt – die ersten dort, wo der Finanzamtsleiter Lehmann das Unrecht vom Hotel Bollinger aus nicht sehen wollte – in der Kavarinerstraße und der Tiergartenstraße. Hierzu lade ich Sie alle ganz herzlich ein.